This Is The End

Liebe Leserinnen und Leser, nach vierzehn Jahren Autorschaft wende ich mich heute zum letzten Mal an euch. Einige waren von Anfang an dabei, haben mich durch Höhen und (seltene) Tiefen begleitet; andere sind später hinzugekommen, gelockt von der Aussicht, durch die Bloglektüre das eigene Spiel zu verfeinern und die Früchte zu ernten, die ein Doppelkopfspiel für emsige Bauern bereithält. Ich habe diesem Spiel alles geopfert; nun aber trägt der Stock in meinem Weinberg keine Trauben mehr.

Ob es ein Zufall war, dass ausgerechnet ich dieses Mal den Spielort vorschlug? Wohl eher nicht. Ob es ein Zufall war, dass es sich um das „Gedeih und Verderb“ handelte? Come on! Ich hatte bereits einige Male in meinem Leben eine Ahnung davon erhalten, dass es nicht immer unsere eigenen Entscheidungen sind, die uns den Weg bahnen; jedoch in aller Kraft und Herrlichkeit zu spüren, wie sich das Schicksal unserer bemächtigen kann, wie es uns erst in den Himmel hebt, wo wir erfahren, was Freiheit bedeutet, wie es uns dann in den unbezwingbaren „Moskenstraumen“, den Mahlstrom stürzen lässt, der uns schließlich zum Grund reißt – das ist etwas eigentümlich Großes.

Ich spielte das Spiel meines Lebens. Runde Nummer 1: +4. Runde Nummer 2: +4. Runde Nummer 3: +4. Es dauerte bloß ein weiteres Spiel (+4), bis unser „Felix“ Nicolai bockig wurde. „Was ist das denn hier?“, pamperte der sonst so oft vom Kartenglück Verfolgte, weil er zum wiederholten Male nicht die üblichen sechs Damen auf der Hand hatte. „Das hier“, wisperte Marvin demütig, „ist eine Machtdemonstration. Und sie ist angemeldet“, darauf anspielend, dass ich in all den Jahren immer wieder zu erkennen gegeben hatte, welch ungemeine Klasse ich ersterdings schon hatte, welche Qualität aber überdies noch in mir schlummerte und an einem vagen Tag in der Zukunft aus dem Schatten ins Licht treten würde.

Sie waren fast ein wenig rührend, die verzweifelten Versuche von Charlott, Nico und Marvin, mich erst auf dem Spielfeld zu zähmen und dann zu entrhythmisieren durch die Flucht in Nebenschauplätze und spielfremde Gespräche („Wie geht es dir wirklich?“). Mir ging es gut!, und nun auf, zur nächsten Partie! Die ich gewann. Und schwungs zur nächsten! Die ich wieder gewann. Mein Spiel hatte hier die brachiale Power, da die betörende Grazie, hier den hehren Mut, da die weise Umsicht, hier den frischen Witz, da den nötigen Ernst, und immer eine nie dagewesene Dringlichkeit. Es war ein Schauspiel, das auf großer Bühne aufgeführt wurde, unter den Augen so vieler, vieler junger Menschen, die den richtigen Abend gewählt hatten, um einen Tisch im „Gedeih und Verderb“ zu reservieren, um uns zuzusehen: den anderen beim Verwelken, mir in meiner bunten Blütenpracht. Nach zwanzig Partien hatte ich mir +79 Punkte erarbeitet, wohingegen Charlott im fast dreistelligen Minusbereich darbte, Nico mit der Null kämpfte und Marvin als erster Verfolger bereits einen Rückstand von knapp 50 Punkten aufwies.

Alles, was ich noch zu tun hatte, war auf das richtige Blatt zu warten, um mein Solo zu spielen. Doch dann regte sich etwas in mir. Trat etwas zutage, das ich wohl aus dem Alltag kannte, nicht aber aus dem Spiel. Wie ich die prallgefüllten Tränensäcke Nicos betrachtete, in die immer kleiner werdenden Äuglein Charlotts blickte, die Erfolgssehnsucht Marvin fast verzehren sah, da empfand ich: Mitleid.

„Kommt, es ist gut“, sagte ich und regte die Pflichtsolorunde an. Charlott erwachte. Nutzte die letzte Chance, um uns in den Bock zu bringen. Servierte dann sogar Marvin mit einer völlig überzogenen Ansage in dessen Solo die Möglichkeit, an mir vorbeizuspringen (es blieb beim kärglichen Hüpfer eines Lämmleins). Und brachte mich schließlich so vor der letzten Runde in die Situation, dass ich, sofern ich keine dreißig Punkte sammeln konnte, vom bräsigen Nico vom ersten Platz verdrängt würde. Ein Blick ins ausgeteilte Blatt verschaffte mir Gewissheit; es war Ausdruck meiner Fassungslosigkeit, dass ich alle Ansagen kontrierte, gleichwohl ich wusste, dass alles umsonst sein würde, gewesen war.

Als Nico den letzten Stich vom Tisch geräumt hatte, wurde es ganz still im Raum. Jedem einzelnem war bewusst, dass hier gerade etwas zu Ende gegangen war. Dass sich ein Spieler in einen Menschen verwandelt hatte, mit seinem Irrtum und seiner Fehlbarkeit, aber eben auch seinem Erbarmen, seinem Mitgefühl und seiner Gnade.

Ich konnte für euch berichten, für euch schreiben, solange mir das Spiel in seinem Moment wichtiger war als alles andere. In der Sekunde, in der ich diesem Anspruch nicht mehr gerecht werde, muss meine Lehre enden.

Und so findet heute, nach vierzehn Jahren, eine bewegte Reise ihr Ende. Eure Kinder, denen ihr meine Zeilen vorgelesen habt, sind jetzt selbst Eltern, und vielleicht werden sie wiederum ihren Kindern meine Geschichte erzählen. Es ist eine Geschichte von Gedeih und Verderb, deren letzte Seite wir nun erreicht haben, deren letzter Satz lautet:

This Is The End.

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Kommentare

10.11.2025 0:07

nochkeine60 Einfach nur danke

10.11.2025 0:16

mark_the_shark Legende

10.11.2025 0:21

eisprinzessin_gotha Wer schneidet hier grad Zwiebeln? :(

10.11.2025 1:05

diefalknerin Ich glaube, ich spreche hier für alle, wenn ich sage: Danke. Für deine klugen Analysen. Deinen Rat. Deinen Spielwitz. Dich.

10.11.2025 6:13

dwsolutions :-)

10.11.2025 10:16

tarantel Word.

10.11.2025 11:35

klaviaturensohn !

10.11.2025 7:19

herzlichgrüßt_dietante Erst mal vielen, vielen Dank für jahrelange Arbeit & Verdienste. Kann man noch erfahren, wie das letzte Spiel ausgegangen ist?

10.11.2025 7:25

dwsolutions Klar sorry: 1. Nico (+137), 2. Marvin (+89), 3. Charlott (+55), 4. Ich (-281)

10.11.2025 7:48

b.wolter61 ???? -281?

10.11.2025 8:01

einfachrieke @b.wolter61 lies den Text dann vertsehst dus oder halt halt einfach mal die fresse

10.11.2025 10:00

jörgson Planst du evt so etwas wie ein Buch darüber zu schreiben deine erfahrungen die ups und downs etc.?

10.11.2025 11:15

dwsolutions Dazu kann ich gerade noch nichts sagen ;)

10.11.2025 11:17

jörgson :) :) :)

10.11.2025 14:30

raphi75 Ein Wort nur: LEGENDE

10.11.2025 15:06

b.wolter61 Wohlwissend, dass bei vielen von euch gerade noch der Schock überwiegt, gilt es doch, den Blick auch in die Zukunft zu richten. Wärt ihr an einer Weiterführung des Blogs unter meiner Ägide interessiert?

10.11.2025 15:07

einfachrieke nein

10.11.2025 16:18

gutemine Ich glaube, du hast nie verstanden, dass es hier nicht nur um Doppelkopf ging

10.11.2025 17:05

pflichtsolo Mach´s gut, “Bobo”!

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